Nicht das Rad neu erfinden

Der Bildungsanspruch des Situationsansatzes reicht weiter,
als PISA es verlangt

Institut für den Situationsansatz, Berlin; Anruf der Kollegin Marie-Theres Albert von der TU Cottbus: Die Geschichte mit PISA sei doch richtig hervorragend. Wieso denn? Weil die, nein: die Antwort auf PISA der Situationsansatz sei, und das nicht erst seit gestern, sondern seit dreißig Jahren. Er sei das einzige Konzept weit und breit, das einen wirklichkeitsbezogenen Bildungsanspruch ernst nähme und die Lösung von realen Problemstellungen in realen Situationen favorisiere. Er sei mehr als PISA. Und er sei auch das beste Verfahren, um beispielsweise durch dauerhaftes Auswendiglernen vom selbstständigen Denken entwöhnte Inge­nieursstudenten in Cottbus angemessen auf ihre beruflichen Anforderungen vor­zubereiten.

Ein paar Wochen später in Berlin-Steinstücken; auf dem Schreibtisch, von der GEW verschickt, eine Stellungnahme der Vereinigung hessischer Unternehmer­verbände (VhU): Der Situationsansatz vernachlässige Bildungsaspekte, die vor­wiegend im Umgang mit Sacherfahrungen entwickelt würden.

Also was nun? Die VhU schreibt Unsinn, sofern sie den Situationsansatz als Kon­zept meint. Die VhU schreibt Bedenkenswertes, sofern sie dessen Abhalfterung in Teilen der Ausbildung und Praxis in den Blick nimmt. Die vier Quintessenzen der folgenden Abschnitte lauten: (1) Der Situationsansatz ist wirksam. (2) Der Situati­onsansatz hält den Bildungsanspruch hoch. (3) Teile der Ausbildung und der durch sie mitgeprägten Praxis sind ein Problem. (4) Anreize sind nötig, um mehr Qualität zu erzielen.

1.Nachhaltige Wirksamkeit

Im Situationsansatz geht es im weitesten Sinn um die Begründung und Gestaltung von Bildungsprozessen. Dreimal wurde er bisher evaluiert:

Die in der ersten Hälfte der neunziger Jahre unternommene Spurensicherung der westdeutschen Kindergartenreform, repräsentiert durch das in der zweiten Hälfte der sieb­ziger Jahre durchgeführte bundesweite Erprobungsprogramm, orientierte sich an einer pragmatistischen Evaluationsstrategie. Untersucht wurden vor allem Kindergärten, die am Erprobungsprogramm teilgenommen hatten, ihr Umfeld, die anhaltende oder nur passagere Wirkung des Erprobungsprogramms, die Brüche bei der Implementation seiner Ergebnisse. Drei Gruppen gewannen Konturen: die exzellent arbeitende Einrichtung, in der der Situationsansatz ideenreich praktiziert und auf neue Lebensverhältnisse hin interpretiert wird; eine Gruppe, in der Ele­mente des Situa­tionsansatzes sichtbar werden; eine dritte Gruppe mit unterdurch­schnittlichem, beschäfti­gungspädagogischem Zuschnitt (Zimmer u.a.1997).

Eine aufwendige externe, empirische und summative Evaluation erfuhr der Situa­tionsan­satz durch eine Forschungsgruppe der Universität Landau gegen Ende der Laufzeit des Mo­dellprojektes „Kindersituationen“ 1996 und 1997 (Wolf u.a. 1998, Wolf u.a.1999). Verglichen wurden Modelleinrichtungen mit Einrichtungen des er­weiterten Kreises (Kindertagesstätten, die am Rande des Modellversuchs mitbe­treut wurden) und Kontrolleinrichtungen (deren Teams angaben, nicht nach dem Situationsansatz zu arbeiten). Im Mittelpunkt der Untersu­chung standen Auswir­kungen von Interventionen im Rahmen des Situationsansatzes auf Erzieherinnen, vor allem aber auf Kinder. Es sei kein Zweifel, heißt es in einer ersten Dar­stellung der Ergebnisse, dass sich die pädagogische Arbeit nach dem Situationsansatz auch schon nach relativ kurzer Zeit bemerkbar mache (Wolf u.a. 1998, S.289): Das Kind, das eigenaktiv, selbständig und konsequent den einmal eingeschlage­nen Weg verfolge, das Kind, das aktiv und auf anregende Weise seine Themen vorantreibe, das Kind, das Kon­flikte austrage, sei in Einrichtungen, die nach dem Situationsansatz arbeiten, deutlich stär­ker vertreten als in Einrichtungen, die das nicht tun.

An anderer Stelle heißt es dazu: „Vor allem in folgenden inhaltlichen Bereichen zeigen sich in den Modelleinrichtungen höhere Werte:

- Gewährung von Freiraum für Kinder (Erzieherin)
- Entscheidungsfreiheit und Eigenständigkeit (Kindergruppe)
- Das selbst entscheidende und bei der Sache bleibende Kind (Kind)
- Kind handelt nicht allein auf Anweisung der Erzieherin (Kind)
- Kindgerechte Anregung (Erzieherin)
- Das aktive, anregende Kind (Kind)
- Kind beschäftigt sich lange mit einem selbstgewählten Thema (Kind)
- Konfliktaustragung und Unabhängigkeit von Erwachsenen
(Kindergruppe)
- Kind, das Konflikte austrägt (Kind)
- Auseinandersetzung mit Regeln und Normen (Kind und Erzieherin)
- Räumlich-materiale Möglichkeiten (Tageseinrichtung)
- Bereitstellung von ‚echten‘ Gebrauchsgegenständen (Tageseinrichtung)
- Bereitstellung von wertlosen, zweckfreien Materialien (Tageseinrichtung)
(Wolf u.a. 1999, S.271).

Vier Jahre danach – 2000 bis 2001 – gab es eine Fortschreibung der Datenana­lyse, mithin eine weitere Evaluation durch die Landauer Forscher. Ihre Vermutung war, dass sich aus verschiedensten Gründen – unter anderem wegen einer hohen Fluktuation des Personals in den einbezogenen Einrichtungen – die damaligen Effekte verflüchtigt hätten. „Wir gingen“, schreiben Wolf, Hippchen und Stuck, „also von der Hypothese einer fast vollkommenen Nivellierung nach vier Jahren… aus“ (Wolf u.a. 2001, S.431). Unerwarteterweise zeigten sich aber auch nach die­sem Zeitraum deutliche Effekte im Sinne der früheren Ergebnisse.

Und PISA? Wenn im Zentrum der Studie weniger die Frage steht, wie gut Jugend­liche schulische Lernstoffe beherrschen, wenn es vielmehr um die Fähigkeit geht, „Kenntnisse und Fertigkeiten zur Bewältigung realitätsnaher Herausforderungen einzusetzen“ (OECD 2001, S.1), dann kann man Kindergärten wie Grundschulen getrost raten, unter Anlegung hoher Qualitätsstandards den Situationsansatz zu praktizieren und weiterzuentwickeln. Künftige Sekundarschüler würden, so vorbe­reitet, eine weitere PISA-Untersuchung vermutlich deutlich besser überstehen, selbst wenn es bei einer solchen Untersuchung immer noch nicht um Problemlösun­gen in realen, sondern in erdachten Situationen gehen sollte.

2.Bildungsanspruch

Der Situationsansatz, der sich nicht nur auf den Bereich einer Erziehung in früher Kindheit bezieht, ist ideengeschichtlich durch die Bildungs- und Curricu­lumtheorie geprägt, wie sie Shaul B. Robinsohn und seine Gruppe am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsfor­schung in Auseinandersetzung mit der fächer­bezogenen Didaktik entwickelt haben. Bil­dung ist nach Robinsohn Ausstattung zum ‚richtigen‘ und ‚wirksamen‘ Verhalten in der Welt. ‚Verhalten‘ ist im umfassen­den Sinn anthropologisch, nicht behavioristisch gemeint. Es ging Ro­binsohn um eine gewinnende Lebenshaltung, um die Möglichkeit, neue und wechselnde Hori­zonte der physischen und geistigen Welt aufzunehmen, zu Allianzen fähig zu sein, ohne Loyalitäten aufzugeben, sich neuen Problemen im Vertrauen auf neue Lö­sungen zu stellen. Bildung hat die Ambivalenz der Bedürfnisse nach Kontinuität und Si­cherheit einer­seits und nach Offenheit, Entdeckung und Produktivität ande­rerseits auszu­halten, ist also auf Überlieferung angewiesen wie auch auf Zukunft hin zu formulieren.

Menschen für ‚richtiges‘ Verhalten in der Welt auszurüsten, bedeutet den Versuch, global concerns auch als local concerns zu verstehen und deren Wechselverhält­nis zu sehen. Si­tuationsanalysen innerhalb des Robinsohn’schen Strukturkon­zeptes der Curriculumentwicklung wie auch innerhalb des Situationsansatzes sind, fundiert angelegt, nicht nur auf Situationen hier und jetzt, sondern immer auch auf die in ihnen enthaltene und sie mit kon­stituierende Vergangenheit und die auf sie einwirkenden gesellschaftlichen Kräfte bezogen. In der Bestimmung von qualifika­tionsrelevanten Sachverhalten und der Formulierung von Qualifikationen findet der Entwurf des Zukünftigen seinen Ausdruck; zum ‚richtigen‘ und ‚wirksamen‘ Ver­halten in der Welt gehört die Fähigkeit, in Situationen nicht nur zu beste­hen, son­dern sie auch zu gestalten.

Der hier gemeinte Bildungsanspruch legt nahe, sich Zugänge zu situationsspezifi­schem, -transzendierendem und generalisierendem Wissen zu verschaffen, die möglichst unmittel­bar zur Erkenntnis führen und nicht Umwege einschlagen müs­sen, die durch die scheinbar im­manente ‚Logik‘ einer der didaktischen Reduktion unterworfenen Fachdisziplin be­stimmt werden (Delphi-Befragung 1996/1998). Diese von Fachdidaktikern behauptete ‚Logik‘ erweist sich bei näherem Hinsehen in Teilen als Konvention des mainstream dar­über, wel­che Wissensbestände in welcher Anordnung als bedeutsam eingeschätzt werden, wie in­nerhalb einer se­quentiellen organisation des Wissenserwerbs das Davor und Da­nach anzu­ord­nen, wie Wissen zu hierarchisieren sei. Untersucht man jedoch komplexe Aus­schnitte sozio-kultureller, technologischer oder ökonomischer Wirklichkeit und identi­fiziert in ih­nen qualifikationsrelevante Sachverhalte und damit auch Anforde­rungen an Wissen, ma­chen diese Anforderungen vor disziplinären Grenzen nicht halt, sondern über­springen sie vielfach, verlangen nach interdisziplinären Amal­gamen, nach einer Fokussie­rung wissen­schaftlichen Wissens unterschiedlicher Provenienz auf Schlüsselprobleme, zu deren Auf­klärung und Lösung dieses Wis­sen beitragen soll (Damerow u.a. 1974). Diese Wirklichkeit straft den fachdidakti­schen Tunnelblick ständig Lügen. Die akademischen Wissensbe­stände sind von hohem Nutzen, nur sind sie im Hinblick auf ein Lernen in komplexen Realsituatio­nen vielfach falsch organisiert und versperren Chancen des Trans­fers solchen Wissens. Ein Curriculum, das sich an generativen Themen orientiert und von dort her strukturiert, ‚plündert‘ wissenschaftliche Wissensbestände und bezieht sie in ge­eignetem Zueinander auf reale Situationen und Probleme. Die Quellen akade­mischen Wis­sens rei­chen dabei nicht aus; weitere Quellen – die Vorerfahrung von Menschen, die Er­kenntni­schancen intuitiven und hermeneutischen Denkens, der künstlerische Zugang – spielen eine bedeutsame Rolle.

Voneinander abgegrenzte fachdidaktische Strukturgitter können sich wie Erkennt­nis- und Handlungsbarrieren zwischen Lernende und Situation schieben. Wird der Erkenntnisprozess hingegen durch Anforderungen der Realität provoziert, wird deutlicher, welches Wissen, welche Kompetenzen hier förderlich sind. Dieser cur­riculumtheoretische Zugang wirkt der historischen Spaltung des Bildungskanons in Humaniora und Realia entgegen, der Fraktio­nierung des Lernens in atomisierte Bestandteile von Stoffkatalogen. Allgemeinbildung und Spezialbildung geraten in ein neues Verhältnis: Allgemeinbildung nicht als Summe des Spezialwissens, sondern im Sinne von Hellmut Becker als Weltverständnis und allgemei­nes Prob­lemlösungswissen; Spezialbildung als Kompetenz zur Lösung spezifischer, Kon­textgebundener Schlüsselprobleme. Im Hinblick auf Wissensbestände aus dem Bereich der Realia ist wichtig, auf den historischen Prozess des kollektiven Ver­gessens sozialer Kon­texte mit eben der Rekonstruktion dieser Kontexte zu ant­worten – nichts anderes meint die Verbindung von sozialem und sachbezogenem Lernen. Die Vermittlung einer auf ihre so­zialen Kontexte rückbezogenen Mathe­matik hätte so Lernenden die systematische Chance zu bieten, nicht-mathemati­sche Voraussetzungen und folgen mathematischer Operationen aufzuklären – dazu gehört beispielsweise das Verständnis für Quantifizierungsprozesse auf der Grundlage nicht-mathematischer Wertsetzungen, einschließlich der retro-analyti­schen Entschlüsselung solcher Setzungen (Damerow u.a. 1974, S.104ff).

Diese Curriculumtheorie stieß zur Zeit ihrer Entstehung, dies konnte nicht überra­schen, auf den Widerstand eines fachdidaktischen Kartells, dessen Vertreter sich neu hätten legitimie­ren müssen. Gleichwohl entwickelten sich korrespondierend zum Situationsansatz im Kin­dergarten auch schulische Versuche des binnendiffe­renzierten, fächerübergreifenden, projektorientierten, auf Schlüsselprobleme be­zogenen Unterrichts (Duncker/Popp 1997, Frey 1982, Klafki 1996 und 1998, Mün­zinger/Klafki 1995). Es ist allerdings ein Unterschied, ob man von einer Realanfor­derung her denkt und ein darauf bezogenes Problemlösungswissen erschließt oder von einem Fachinhalt her nach illustrierenden und nicht selten ideologisie­renden ‚Anwendungen‘ sucht (Keitel 1986). Eine bisher nicht überwundene Schwäche der Fachdidaktik liegt darin, dass sie im Zweifelsfall das Verbindungs­ seil weit mehr in Rich­tung Disziplin und weit weniger in Richtung komplexe Reali­tät auswirft. Im Extremfall bedeutet dies ‚akademische‘ Stoffhuberei, während der Situationsansatz die Problemlösun­gen in Realsituationen ins Zentrum rückt und den jeweiligen Prozess der Erschließung und Aneignung von problemlösendem Wissen mindestens ebenso ernst nimmt wie dessen In­halte.

Die Kritik fachdidaktischer Verengungen ist nicht gleichzusetzen mit einem Ver­zicht auf systematisches Lernen und eine sequentielle Anordnung von Lerninhal­ten. Dort, wo beides im Kontext der Situationen Sinn macht, ist es willkommen. Zudem reklamiert der Situa­tionsansatz keinen Monopolanspruch, sondern verhält sich komplementär zu anderen Lern­zugängen, sofern sie seinen normativen Prä­missen – zu denen die Postulate von Autono­mie, Kompetenz und Solidarität, eine Balance von Eigensinn und Gemeinsinn gehören – nicht widersprechen. Wenn die Ausbildung von Studierenden der Medizin an der Harvard Universität von komple­xen Problemsituatio­nen ausgeht und damit den hier skizzierten Weg einschlägt, wird der Wissenserwerb einem komprehensiven Verständnis der Situation von Patienten untergeordnet. Formelles und informell-situatives Lernen geraten in ein sy­stemisches Wechselverhältnis.

Nimmt man Aussagen aus der Delphi-Befragung über Potentiale und Dimensionen der Wissensgesellschaft, dann ergeben sich zahlreiche Übereinstimmungen: Der Erwerb von Kompetenzen zur Erarbeitung von Problemlösungswissen wird als zunehmend relevant eingeschätzt – der Situationsansatz hilft bei der Lokalisierung und Wichtung dieser Pro­bleme, bei der Bereitstellung realistischer Settings und hochdifferenzierter Lernumwelten. Das Lernen wird zunehmend im Wechsel von formaler und situativer Bildung erfolgen. Problemlösungswissen wird wichtiger als reines Fachwissen. von der Kanonisierung des Wissens in einem festen Bil­dungskanon wird man sich verabschieden müssen – der Situa­tionsansatz setzt hier schon lange auf exemplarische situationen, unter ausdrücklichem Verzicht auf den Versuch einer ‚überzeitlichen‘ und transkulturellen Festschreibung.

Im Bereich des formalen Bildungswesens wird eine Implementation der Ergeb­nisse des Bildungs-Delphi auf ähnliche Barrieren stoßen wie seinerzeit das - durch das Bildungs-Delphi aktualisierte - Strukturkonzept der Curriculumrevision. Im so­zialpädagogischen Milieu der Jugendhilfe ist hingegen mit einem anderen Handi­kap zu rechnen: Die Ausbil­dung der Erzieherinnen vermittelt bisher – von rühmli­chen Ausnahmen abgese­hen – we­der eine zureichende Kompetenz für den Situationsansatz insgesamt, noch für seinen spezi­fischen bildungstheoretischen Anspruch. Zur Vermeidung sozialpädagogisch geprägter Abschottungsprozesse ist es hier notwendig, an einer entsprechenden Professio­nalisierung der Aus-, Fort- und Weiterbildung weiterzuarbeiten.

Zu den Zielen des Situationsansatzes gehört es, das Verhältnis zwischen raschem gesellschaftlichen Wandel sowie sich entsprechend verändernden Situationen von Kindern in den Blick zu nehmen und auf pädagogische Schlussfolgerungen hin zu diskutieren. Solche Entwicklun­gen betreffen auch das Tempo des Wandels famili­aler Strukturen; diese wiederum wirken auf Institutionen der Tagesbetreuung ein – die Druckwellen setzen sich fort. Vergleicht man die situationsbezogenen curricu­aren Materialien der siebziger Jahre einschließlich der thematisierten Situationen und Situationsanalysen, so unterscheiden sie sich deutlich von denen des – in den neuen Bundesländern durchgeführten – Projektes „Kindersituationen“: „Das soll einer verstehen! Wie Erwachsene und Kinder mit Veränderungen leben“ heißt ei­nes der Bücher in der „Praxisreihe Situationsansatz“ (Doyé/Lipp-Peetz 1998 b). Zu den erkenntnisleitenden Interessen bei der Analyse von Lebenswelten in den siebziger Jahren gehörte das der Teilhabe von Kindern an der Gestaltung von Si­tuationen – dies in Wider­spiegelung des Diskurses über Demokratisierung in jener Zeit. Der Situationsansatz in den achtziger Jahren war unter anderem durch die Reflexion interkultureller Lebenszusammen­hänge geprägt. In den neunziger Jah­ren bildeten die gesellschaftlichen und ökonomischen Umbrüche den Hintergrund von Situationsanalysen – der Prozess des relativen ökonomi­schen Abstiegs Deutschlands mit dem damit verbundenen Verlust von Arbeitsplätzen, mit der Entwicklung von Patchwork-Lebensläufen und der Notwendigkeit, die Fähigkeit zum micro innovative entrepreneurship als Grundqualifikation zu verstehen und zu lernen, auf die eigenen Füße zu fallen.

Lernen in einer sich verändernden Wirklichkeit enthält für den Situationsansatz die Chance, durch die von und mit Kindern vollzogene Erschließung kindgemäßer, gleichwohl komplexer Realsituationen die von der Kognitionspsychologie immer wieder geforderten hochdifferenzierten Lernumwelten zu schaffen (Dickinson 1994, Morowitz/Singer 1995, Perkins 1987). Hierzu können durchaus auch neue Realitäten wie die Medien zählen
(Papert 1993).

Mitglieder von UNESCOs neuem Think Tank „Learning Without Frontiers“ verwei­sen darauf, dass der informal learning sector, der zeitlich umfänglicher und quali­tativ bedeut­samer sei als der formelle Sektor verfasster Bildungsinstitutionen, auf die Anforderungen des Hyperchange möglicherweise wesentlich flexibler und an­gemessener reagiere als der formelle Sektor. Dies hänge damit zusammen, dass sich im informellen Sektor ein pädago­gisch gleichsam entfesselter Typus des Lernens entfalten könne: Er zeige, zu welchen si­tuationsstrategischen Leistungen menschliches Lernen in der Lage sei. Dies sei auch ein Sachverhalt, der durch Forschungen in den Bereichen der Kognitionswissenschaften, der angewandten Linguistik, der Psychologie, der Neurologie, der Ökologie, Biologie, So­zialanthro­pologie und Semiotik gut erfasst sei, der aber dem im pädagogisch-institutionel­len Setting realisierten Lerntypus widerspreche: „Our current educational solutions, still grounded in the metaphors of yesterday, continue to view learning as a mere preparation for life – with a discrete beginning and end – not as an integral part of life“ (Jain 1997, S.6).

Für den Situationsansatz ist der informelle Sektor des Lernens von hohem Inte­resse. Die von UNESCO geäußerte These ist ja, dass er die Potenzen menschli­chen Lernens besonders herausfordere und entfalten könne. Menschliches Lernen sucht sich seinen Weg auch durch das Drunter und Drüber, legt Handlungs­schneisen, speichert Erfahrungen, wertet Irrtümer aus. Erkenntnis- und Lernpro­zesse in Realsituationen, in open learning communities, las­sen sich elaborieren, Möglichkeiten des Transfers unter realistischen Rahmenbedingungen ausloten – ein Lernen in der Unsicherheit, aber auch Herausforderung des offenen Aus­gangs ist etwas anderes als die Organisation des Lernens unter artifiziellen Bedingungen und in Parametern der Scheinsicherheit.

Pädagogisch gefördertes Lernen in komplexen Realsituationen bedeutet mithin, Lernchan­cen innerhalb der Situationen zu erweitern, Zugänge zu situationsspezifi­schen und –überschreitenden Wissensbeständen zu gewinnen, Risiken abzuwä­gen, Transfermöglichkeiten zu nutzen, sich über normative Bezugspunkte des Handels zu verständigen. An einem den Situationen angemessenen Verständnis des Lernens muss weitergearbeitet werden, nicht nur im Bereich der frühen Kind­heit, sondern auf jenen Stufen des Bildungswesens, auf denen Programm und Setting zunehmend ins Abseits geraten: Viele der gesellschaftlich relevan­ten Lernprozesse, das hat Ralf Dahrendorf schon vor Jahren bemerkt, werden jenseits der durch Inkompetenzen gekennzeichneten pädagogischen Institutionen organi­siert. Hinsicht­lich einer Didaktik des Situationsansatzes ist das Verhältnis von Verschulung und Entschuldung, von Komplexität der Wirklichkeit und Komplexi­tätsreduktion des Lernvorgangs, von Selbstregulation und strukturierender Mode­ration von Lernprozessen immer wieder neu zu verhandeln.

3. Abdrift der Ausbildung

Wenn ein Berufsstand, von einer lebhaften Brise getrieben, sich positiv fortentwi­ckelt, sollte die Ausbildung mit dieser Entwicklung in Tuchfühlung bleiben, besser: Sie sollte diese Entwicklung unterstützen, mit vorantreiben, ihre Qualität sichern. Ausbildung könnte zum Ferment einer rollenden Reform werden, die andauernde Anstrengung der Quali­tätsentwicklung auf sich nehmen.

Driftet die Ausbildung ab vom Entwicklungsgeschehen, gerät sie in eine Flaute, unterlie­gen die Lehrenden einer stetigen déformation professionelle, kommt ihrem Unterricht der Bezug zu gegenwärtigen beruflichen Anforderungen abhanden. Die Karawane zieht dann ohne die Ausbildung weiter.

Anfang der siebziger Jahre, nach den two decades of non-reform in West German educa­tion (Robinsohn), entwickelte sich - ähnlich einer großen antarktischen Eis­scholle, die ins wärmere Wasser gerät - ein Riss zwischen dem Reformgesche­hen in der Praxis und einer eher stagnierenden Ausbildung. Beide, Praxis und Ausbildung drifteten langsam auseinan­der. Der Kindergarten hatte die Botschaften von Freire, Illich, Bernfeld und Robinsohn besser verstanden als die Schule. Der in der ersten Hälfte der siebziger Jahre entwickelte und danach bundesweit erprobte und akzeptierte Situationsansatz stellt eine zugleich entschulte wie intensive Lernlandschaft dar.

Das Dilemma der Ausbildung zeichnete sich curricular und strukturell ab. Während die Schlüsselsituationen von Kindern 'draußen' von einigen tausend Erzieherinnen - durch Wissenschaftler unterstützt - analysiert und pädagogisch beantwortet wur­den, bewegten sich 'drinnen' die Fachinhalte und Fächerstrukturen nur in be­scheidenem Maße. Es war nicht so, dass sich - im Freire'schen Sinne - generative Themen von 'draußen' als strukturie­rende Elemente des Curriculum 'drinnen' durchgesetzt hätten. Fanden sie überhaupt einen Widerhall, hatten sie sich der Fächerstruktur unterzuordnen.

Ein für die Ausbildung verhängnisvoller Fehler jener Jahre lag in der Verengung staatli­cher Modellversuchspolitik auf Praxiseinrichtungen, die nicht im Zusammen­hang mit ih­rem systemischen Umfeld gesehen wurden. So blieb undeutlich, dass sich ein innovations­freudiger Kindergarten in einem solchen Umfeld befindet, eines, das auf ihn verstärkt ein­wirkt, wenn die Laufzeit des in stützenden Modell­versuchs beendet ist und keine auf Nachhaltigkeit angelegte Implementati­onsphase folgt. Besonders deutlich wurde dies mit Ablauf des Erprobungspro­gramms Ende der siebziger Jahre, jenem dreijährigen Großpro­jekt, das der Prü­fung unterschiedlicher curricularer Materialien diente und zur konsensuellen Ver­ständigung über den Situationsansatz und seine Varianten führte. Mit Ende des Programms fielen regionale Projektgruppen und Moderatorenstellen in neun Bun­deslän­dern weg. Konferenzen und Arbeitstreffen wurden nicht fortgesetzt. Viele der von den Entwicklungen beflügelten Erzieherinnen fanden sich in einem Umfeld wieder, das sich - von wenigen Bundesländern und Trägern abgesehen - reform­neutral bis vorreformatorisch verhielt. Oft fanden diese Erzieherinnen, dies zeigte eine spätere Evaluationsstudie - nie­manden, der sie anerkannt oder ermutigt hätte.

In einem solchen Verständnis von Bildungspolitik sind Modellversuche nicht Ak­zente ei­ner systemisch angelegten rollenden Reform, sondern thematisch und institutionell engdi­mensionierte temporäre Akte. Hören sie auf, müsste eigentlich die unabhängig von Modell­versuchen existierende Infrastruktur - die Aus- und Fortbildung, die Träger und die Jugendämter - die Stafette übernehmen und aus temporären Entwicklungsanstrengungen perma­nente machen. Was aber, wenn diese anderen Teilsysteme zuvor gar nicht oder nur in An­sätzen an solchen Ent­wicklungen beteiligt waren? Immerhin: In einigen wenigen Landstri­chen waren sie angekoppelt, dort fuhren sie wie auch die Praxiseinrichtungen unter Dampf weiter; es waren die engagierten Praxiseinrichtungen, die mit engagierten Trägern, enga­gierten Fachberatern, engagierten Aus- und Fortbildungseinrichtungen und enga­gierten Jugendämtern zusammenarbeiten konnten. In vielen anderen Landstrichen breiteten sich langsam wieder weiße Flecken aus, sie wurden größer, je länger Modellversuche und Er­probungsprogramm zurücklagen.

Gegenwärtig kann man dieses Déjà-vu in den neuen Bundesländern erleben. Das groß angelegte Projekt "Kindersituationen", das den Situationsansatz drei Jahre lang in all diesen Ländern (samt dem Ostteil Berlins) adaptierte und weiterentwi­ckelte, das erfolgreich einer externen empirischen Evaluation unterzogen wurde, hat nur zu vereinzelten Implementationsanstrengungen auf breiter Ebene geführt.

Die Kindergartenreform im Westen hatte übrigens nicht nur 'intrinsische' Motive, war also nicht nur dem pädagogischen Gewissen verpflichtet, sondern wurde auch durch 'extrinsi­sche' Motive veranlasst: Die lagen in dem vom Deutschen Bildungs­rat losgetretenen Streit um die Fünfjährigen, der letztendlich wie das Hornberger Schießen ausging. Kaum war er vorüber, ebbte der Eifer extrinsisch motivierter Träger des Reformgeschehens ab.

Ein weiteres Moment beförderte die Abdrift: die kulturelle Distanz zwischen Ju­gendhilfe und Schule, zwischen Sozial- und Kultusministerien. Fachschulen und Kindergärten unter­liegen, was Ressortzuständigkeiten anbelangt, in den meisten Fällen dem Einfluss unter­schiedlicher Philosophien. Das Verhalten der Jugendhilfe ist dabei - historisch gesehen - ambivalent. Einerseits hat sie die Chance, mo­derne Lernsettings ohne verschulte Struktu­ren anzubieten. Andererseits blickt sie, was ihren eigenen Institutionalisierungsgrad anbe­langt, neidvoll auf das streng verfasste Bildungswesen. Das auf weitere Institutionalisierung gerichtete Interesse der Jugendhilfe läuft ihrem pädagogischen 'Freiheitsanspruch' zuwider. Mithin setzt sie sich dem verschulten und verdinglichten Typus Fachschule wenig Wider­stand entgegen.

Die Fachschule konnte sich so zu einem Zwitter entwickeln, der ein sozialpädago­gisches Klientel jenseits des Schulwesens ausbildet, aber diesseits, innerhalb rigi­der Strukturen, angesiedelt ist. Die Sisyphusarbeit eines gutwilligen Schulkollegi­ums besteht darin, dass es, an den weitgehend falschen Ort gefesselt, für ein we­sentlich freieres Gelände ausbilden soll. Um das wirklich zu können, müsste es erstmal zum Entfesselungskünstler werden.

Paradox ist das Curriculum vieler Fachschulen. Es vernachlässigt den Bildungs­anspruch des Kindergartens und arbeitet damit einer 'bildungsfernen' Jugendhilfe zu. In der Philoso­phie der Jugendhilfe geht es primär nicht um Bildungsprozesse. In den Settings der Ju­gendhilfe könnte es aber um Bildung in komplexen Realsitu­ationen gehen, um mehr, um besser anwendbare und transferierbare, nicht um weniger Bildung. Anstatt der Bildungs­ferne der Jugendhilfe einen klaren Bildungs­anspruch entgegenzusetzen, folgen nicht we­nige Ausbildungseinrichtungen den Selbstbeschränkungen der Jugendhilfe. Ein Kinder­garten ist keine Schule: richtig. Das muss aber doch nicht heißen, vage Formen sozialen Lernens oder unterfor­dernde Beschäftigungsangebote als ausreichendes Leistungsniveau zu nehmen. Fachschulen stellen hier durch die unzureichende Vermittlung lernbereichsdi­dakti­scher, auf den Situationsansatz bezogener Kompetenzen ihr schulpädagogisches Licht unter den Scheffel. Sie vermitteln in einer keinesfalls befriedigenden Weise, wie man - in Abwandlung des nach wie vor wichtigen curriculumtheoretischen An­satzes von Jerome Bruner ("structures of disciplines") - zwar nicht wissenschafts­propädeutisch (Wissenschaft ist kein Selbstzweck) im Kindergarten arbeitet, aber doch 'wissenschaftliches' Wissen auf situative Zusammenhänge beziehen kann: nicht Fachdidaktik, sondern lernbereichsdidak­tisch vertiefte Situationsdidaktik. Der weit gehende Verzicht darauf bedeutet, den Bil­dungsanspruch des Kindergartens und des Situationsansatzes abzuhalftern.

Ein weiteres retardierendes Moment, mit dem Fachschulen sich auseinander zu setzen ha­ben, liegt in dem formal viel zu niedrigen Eingangs- und Ausgangsni­veau der Ausbildung. Dass das Erfinderland des Kindergartens nunmehr mit Österreich das europäische Schluss­licht darstellt, ist nicht nur für Industrie-, sondern auch für Schwellenländer ein weitgehen­des Unikum. Für die meisten asiatischen Länder beispielsweise ist ein an nordamerikani­schen oder britischen Standards orientierter Universitätsabschluss Voraussetzung für die Arbeit in einer qualifizier­ten Einrichtung.

Zu Zeiten der westdeutschen Kindergartenreform fiel dieses Manko deshalb nicht auf, weil der partizipatorische Charakter der Reformentwicklungen bei allen betei­ligten Kräften - einschließlich der Kinderpflegerinnen - einen erheblichen Professi­onalisierungsschub be­wirkte. Spätestens in den achtziger Jahren aber wurde sichtbar, dass die Karrierehoffnungen qualifizierter Erzieherinnen ins Leere führ­ten, dass sie Gefahr liefen, einem cooling out zu unterliegen, falls sie nicht den Beruf wechselten. Hinzu kam, dass andere attraktive Berufe inzwischen von Frauen erobert wurden, so dass die zur beruflichen Stagnation verurteilten Erzie­herinnen der Karriere dieser Frauen nur hinterherblicken konnten. Wer heute den Be­ruf der Erzieherin wählt, muss - pointiert ausgedrückt - entweder besessen oder in Verle­genheit sein oder eine defensiv orientierte Biographie mitbringen: Man möchte dann nicht ins feindliche Leben hinaus, sondern im geborgenen Rahmen die eigene Kindheit zurück­gewinnen.

Blickt man in die Geschichte des Berufs zurück, gab es die Schnittstellen Kinder­gärtne­rin/Jugendleiterin bzw. mittlere Bildung/Abitur. Eine der impliziten Thesen der von Til­mann Netz vorgelegten empirischen und zugleich sozio-historischen Studie über die Aus­bildung von Erzieherinnen ist die, dass die Abiturschwelle der Tendenz nach den Unter­schied zwischen einer eher regressiven, schonraum- und behütungsorientierten Berufsein­stellung und einem eher den Bildungsanspruch des Kindergartens betonenden beruflichen Selbstverständnis markiert.

Ein entscheidendes, mitzuverantwortendes Manko der Fachschulen - von rühmli­chen Aus­nahmen abgesehen - liegt in ihrem Verzicht auf eine output-orientierte, auf berufliche Verwendungssituationen bezogene Curriculumentwicklung. Wären die Fachschulen dem Robinsohn'schen Strukturkonzept der Curriculumrevision gefolgt, hätten sie ihre Curricu­lumentwicklung an gesellschaftlichen und familialen Veränderungen, an den dem Wandel unterliegenden beruflichen Anforderungen von Erzieherinnen orientiert, wären sie nicht ins Abseits geraten; kurzum: sie hät­ten nicht nur Anschluss behalten, sondern in Würdigung dieser Entwicklungen neue berufliche Profile mitdefinieren können. Statt dessen hat das schon zitierte fachdidaktische Kartell - quer über die verschiedenen Schularten - die Robin­sohn'sche Herausforderung ausgesessen. Damit aber war die Weiche für die Aus­bildung Richtung Abstellgleis gestellt. In den Untersuchungsergebnissen von Netz spiegelt sich diese Enttäu­schung wieder: "Je weniger die individuelle Disposition der Lernenden berücksichtigt wurde, weil die einzelnen Unterrichtsfächer nach Regeln der Fachdidaktiken unterrichtet wurden, und zwar von Lehrkräften, die sich mit der Pädagogik des Kindergartens wenig identifizierten, die in der Reformphase die Idee vom neuen Kindergarten nicht zu ihrer eigenen machten, um so mehr wurde die Ausbildung nur als Zugangsvoraussetzung erlebt, nicht aber als eine Phase, in der grundlegende Kompetenzen im Rahmen der beruflichen Sozialisa­tion erworben werden" (Netz 1998, S.353).

Fazit: Nach den Innovationsschüben der siebziger Jahre erlebten wir in den acht­ziger - und im Westen auch in den neunziger - Jahren - eine Abbremsbewegung. Zwar gab es in eini­gen Bundesländern - Hessen, Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen - deutliche Bemühun­gen, das Ausbildungsdefizit in Sachen Reform­standards durch Fortbildungsveranstaltungen zu kompensieren, und es gab und gibt auch einzelne Fachschulen, die mit langem Atem diese Standards in bemer­kenswerter Weise hochhalten und fortentwickeln, aber es gab keine konzertierte, bundesweite Aktion. Eher waren es positive Infektionsketten: Ein von diesen Standards überzeugter Dozent bildete Studierende aus, die in reformbewusste Pra­xiseinrichtungen gerieten, später ihren eigenen Kindergarten leiteten und wie­derum Prakti­kantinnen förderten...

Die beiden Subsysteme Ausbildung und Praxiseinrichtungen drifteten gleichwohl ausein­ander wie aufgebrochene Packeisflächen im Polarmeer. Die Ausbildung verlor zunehmend den Kontakt zur bewegten Praxis, die bewegte Praxis wiederum verlor an Schubkraft. Die Fortbildung hatte mitunter mehr Chancen, dranzublei­ben, zumindest dann, wenn ihre Do­zenten sich nicht ihrerseits allzu sehr an den Bezugswissenschaften festklammerten - nach dem Motto: ich bin Psychologe und nur auf Leitungskonflikte eingestellt. Das Reformpro­fil der siebziger franste in den achtziger und neunziger Jahren aus. Fähnlein der sieben Aufrechten hielten durch, daneben Resignation, Vergesslichkeit und der Tagungsverbalis­mus einiger Experten mit dem Bemühen, das Rad neu zu erfinden. Nicht nötig. Es geht ledig­lich darum, versäumte Lektionen aufzuarbeiten.

4. Zwei Dutzend Vorschläge

Ausbildung als Ernstfall: In Lausanne gibt es eine Hotelfachschule, die in ihre Ausbildung solche Ernstfälle einbaut. Sie ermuntert Hoteliers der Region, der Schule Probleme mitzu­teilen und Studenten zur Problemlösung anzufordern. So mag dann den Studenten Anton Grübel die Aufgabe treffen, in kürzester Zeit in der Lobby eines Hotels im Berner Ober­land ein drei Meter langes Seewasseraquarium entwerfen und so installieren zu lassen, dass die Fische mehr als nur drei Tage glücklich bleiben. Ob Grübel zuvor etwas von Fischen und Aquarien verstehen muss? Nein. Seine Aufgabe ist es, dieses Wissen zu mobilisieren, zu delegieren, die Problemlösung zu managen und den Erfolg zu gewährleisten. Nicht die Dar­stellung von Problemen zählt, sondern die Präsentation verlässlicher Lösungen ohne unnötigen Zeitverlust. Einen deutlichen Schuss dieses Arbeitsstils kann man sozialpädago­gischer Ausbildung nur wünschen.

Lernen in provozierenden, das Problemlösungsverhalten herausfordernden Set­tings: Das wäre, nein: das ist die hohe Kunst der Ausbildung. Erfahrungswissen und wissenschaftli­ches Wissen fließen zusammen. Am Ende bricht das Seewas­seraquarium weder unter sei­nem Eigendruck zusammen, noch verwandelt sich das Wasser in trübe Brühe, noch treiben Fische mit dem Bauch nach oben, noch ziehen sich die Arbeiten in die Länge, noch werden Gäste mehr als minimal ge­stört.

Wie aber solche Settings schaffen? Wohin das Netz weiter auswerfen? Wie die Ausbildung neu denken? Hier kommen 24 Vorschläge. Sie zielen darauf, das im­mer wieder stagnie­rende Gesamtsystem - Praxiseinrichtungen, Schulen und so weiter - durch halbwegs intrin­sische Motivationen in eine dauerhafte, der Quali­tätsentwicklung, -sicherung und -ver­breitung dienende Bewegung zu versetzen: Dies könnte durch Einführung eines sozial verträglich gestalteten Wettbewerbs­modells versucht werden. Ein solches Modell besteht im Grundsatz aus drei Kom­ponenten: erstens aus der Entwicklung von Qualitätsstandards für alle Teil­systeme; zweitens aus einer Verbindung von interner und externer Evaluation in allen Teilsystemen (nicht nur der Praxiseinrichtungen!); drittens in der Schaffung von Anreizen. Ziel ist die Einrichtung einer dauerhaften Reforminfrastruktur unter Einbezug und Dynamisierung existierender Institutionen.

Curriculum

1. Die Unterscheidung in Aus-, Fort- und Weiterbildung entfällt. Aus-, Fort- und Weiterbildung werden konzeptionell und curricular integriert und als lifelong learning-Konzept von Ausbildung, als sequentielle berufliche Pro­fessionalisierung und Differenzierung angelegt.

2. Die Ausbildung wird in Modulen mittlerer Reichweite organisiert. Die Mo­dule orientieren sich im Wesentlichen an beruflichen Verwendungssituatio­nen und deren qualifikatorischen Anforderungen. Module bestehen aus meh­reren Curriculum-Elemen­ten.

3. Aufgabe der verantwortlichen Politik ist es, die allgemeinen Ziele und thema­tischen Bereiche zu benennen, die durch Module abgedeckt werden sollen. Für die Entwicklung von Modulen sollen Relevanz-, aber auch Güte­kriterien vorgegeben werden.

Dieser politische Entscheidungsprozess kann durch die Arbeit von Sachver­ständigen vorbereitet werden, die, auf Situationsanalysen gestützt, begrün­dete Annahmen über die Art und Entwicklung von beruflichen Verwen­dungssituationen treffen. Da die Entwicklung einer Struktur des Bildungs­kanons als Prozess anzulegen ist, sind fort­laufende Korrekturen und Anpas­sungen möglich.

Soll dieser Entwicklungsprozess professionell durchgeführt werden, muss schul­päda­gogische und didaktische mit externer, d.h. situationsanalytischer und be­rufsfeldbezogener Kompetenz zusammenkommen.

4. Monopolähnliche Strukturen auf Seiten der Anbieter von Ausbildung wer­den auf­gelockert. Neuen Entwicklern und Anbietern von Modulen wird der Eintritt in den Professionalisierungsmarkt erleichtert.

Zur Entwicklung von Modulen werden - unter Vorgabe von Relevanz- und Güte­kriterien - fachlich geeignete unterschiedliche Anbieter zugelassen. Sie unterzie­hen sich wie bisherige Anbieter auch einer an Qualitätsstandards orientierten ex­ternen, im Dialog mit den Betroffenen erarbeiteten Evaluation. Der Wettbewerb zwischen akkreditierten Modul-An­bietern wird gefördert (leistungsbezogene Mittel­zuweisung, ranking). Institutionen mit speziellen Kompetenzen können diese in die Modul-Entwicklung einbringen. Sofern Modul-Entwicklungen nicht öffentlich geför­dert, sondern privatwirtschaftlich vorfinanziert werden, können sie im Wege der Lizenzvergabe (franchise) Professionalisierungseinrich­tungen angeboten werden. Eine modulentwickelnde Institution kann entsprechende Profes­sionalisierungspro­zesse selbst übernehmen.

5. Zu den Aufgaben der verantwortlichen Politik gehört die Festlegung, wel­che Module zum Fundamentum des Berufs der Erzieherin gehören, und wel­che Module im Wahlpflicht- oder Wahlbereich bedarfsgerechte und berufs­feldspezifische Vertie­fungen und Differenzierungen bzw. neue berufliche Kombinationen ermöglichen.

Das Modul-System verhindert horizontale und vertikale Abschottungen. Erziehe­rinnen können ihre berufliche Entwicklung stärker selbst steuern und abwechs­lungs- und perspek­tivenreicher gestalten.
Das Modul-System verhält sich wegen seiner von Nutzern mitbestimmbaren Flexi­bilität gegenüber Biographien insbesondere von Frauen freundlicher als starre schulische Vorga­ben. Praxiseinrichtungen können sich Module holen und Anbieter über den Wettbewerb veranlassen, in Form einer teambezogenen Professionali­sierung vor Ort tätig zu werden.
Man kann sich auch Module aus benachbarten Ausbildungsgängen holen und Perspek­tivenwechsel oder ungewöhnliche berufliche Kombinationen anzielen. Zur Festlegung von Qualitätsanforderungen gehört die politische Entscheidung, wel­che Akkumulation oder Kombination von Modulen welche Zu- und Ausgänge er­möglicht.
Das Modul-System setzt auf qualitätsfördernden Wettbewerb im Rahmen öffentli­cher Verantwortung, öffentlicher Qualitätskontrolle und gemeinnütziger Zweckset­zung. Es ist nicht gleich bedeutend mit Privatisierung.

6. Examina werden modulbezogen abgelegt. Prüfungen werden so gestaltet, dass sie auch die Leistung von Studierenden bei den Qualitätsentwicklungen in der Praxis berück­sichtigen.

7. Ausbildungseinrichtungen (auch solche, die nur einzelne Module anbie­ten) wer­den mit Praxiseinrichtungen zu regionalen Entwicklungsnetzwerken zusammenge­führt.

Ausbildung ist für die qualitative Praxisentwicklung mit zuständig und wird darin auch evaluiert. Ein Teil der für Ausbildung vorgesehenen Mittel wird im Ergebnis einer solchen Evaluation leistungsbezogen vergeben. Infolge dieser Koppelung von Evaluation und An­reizen wird sich die Ausbildung stärker von Schulstandorten hin zu Praxisorten verlegen. Ausbilder werden stärker ambulant, d.h. mit Studie­renden und Praxisvertretern vor Ort in Entwicklungsvorhaben arbeiten. Die bishe­rigen Ausbildungsstätte bleibt pädagogische Werkstatt, Ort der systematischen Reflexion, der Vor- und Nachbereitung, der Vermittlung praxisüberschreitender Wissensbestände.

8. Das Verhältnis zwischen den Lernorten wird innerhalb jedes Moduls dyna­misiert.

Das Unterrichtsdeputat wird in modulbezogene Dienstzeiten an den jeweiligen Orten des Geschehens überführt. Vor- und Nachbereitungszeiten werden integ­riert.

Flexible Organisation und Unternehmensgeist

9. Die Ausbildungseinrichtungen erhalten eine weit reichende Autonomie in der Entwicklung ihres curricularen Profils, in der Ausgestaltung ihrer mo­dulbezogenen Praxiszugänge, in ihrer Organisation sowie in Fragen der Per­sonalbesetzung. Sie werden extern evaluiert.

Ausbildungseinrichtungen können, wenn sie Teil eines größeren Schulzentrums sind, eine kleine Schule in der großen bilden.
Innerhalb der Ausbildungseinrichtungen werden modulbezogene Teams aus Leh­renden und Studierenden gebildet, die in Verfolgung der mit dem Modul verbun­denen Ziele und des zeitlichen Rahmens Gestaltungs- und Bewegungsfreiheit ha­ben.

Die Ausbildungseinrichtungen sind berechtigt, sich unter Wahrung zu definieren­der Rah­menbedingungen Lehrkräfte selbst auszuwählen. Fachkräfte mit profilrele­vanten Berufser­fahrungen können ebenfalls eingestellt werden.

10 .Die Ausbildungseinrichtungen werden über Leistungsanreize angeregt, sich zu Community Schools weiterzuentwickeln.

Diese Entwicklung setzt drei Akzente: die synergetische Integration bisher ge­trennter, zur Profilbildung jedoch geeigneter Institutionen (wie z.B.: Kindertages­stätte, Kinderhotel, Jugendfreizeitheim, Schule, Volkshochschule, Beratungsein­richtungen, Restauration, Schülerfirmen), die Öffnung der Schule nach innen mit der Nutzung ihrer Ressourcen und der Entwicklung von Programmangeboten und Dienstleistungen für ein schulfremdes Klientel; die Öffnung nach außen mit der Erschließung von Lernorten und Hand­lungsfeldern in der Region.

11. Den Ausbildungseinrichtungen wird ermöglicht, zusätzliche Einnahmen zu er­wirtschaften und sie im Rahmen ihrer gemeinnützigen Zwecksetzung zu verwenden. Öffentliche Zuwendungen erfolgen global und nicht an Einzelti­tel gebunden.

Die Ausbildungseinrichtung kann finanzielle Prioritäten setzen. Mittel, die über eine Grundsicherung des Ausbildungsbetriebes hinausgehen, werden leistungs­bezogen verge­ben. Die Existenzgründungen Studierender sowie die Gründung von Schülerfirmen wird gefördert.

12. Für die staatliche Anerkennung einer privaten Ausbildungseinrichtung ist nicht deren Zugehörigkeit zu einem anerkannten Schulträger, sondern die extern evaluierte Qualität ihres Angebotes maßgebend. Die Umwandlung trägerabhängiger Ausbildungseinrichtungen in gemeinnützige Unternehmen wird ermöglicht.

Perspektiven der Weiterentwicklung flankierender Teilsysteme

Als Diskussionsanregungen seien hier noch einige Empfehlungen zu - von der Ausbildung her gesehen - flankierenden Teilsystemen abgegeben. Auch diese Empfehlungen sind den zuvor schon genannten Leitlinien - der Entwicklung von Qualitätsstandards für alle Teil­systeme, der externen, dialogischen und anreizge­koppelten Evaluation, dem sozial ver­träglichen Wettbewerb, dem Unternehmens­geist - verpflichtet.

Kindertagesstätten

13. Kindertagesstätten wird es ermöglicht, sich als Dienstleistungsunterneh­men zu definieren und sich dazu eine geeignete Rechtsform zu geben (z.B. gGmbH, GbR).

Die Gründung von Kindertagesstätten ist nicht an eine Zugehörigkeit zu aner­kannten Trägern gebunden. Eine vorläufige Betriebserlaubnis wird nach den Krite­rien des KJHG (Bedarf) und nach Prüfung des vorgelegten, an Qualitätsstandards orientierten Konzepts erteilt. Der endgültigen Betriebserlaubnis geht eine externe Evaluation voraus. Kin­dertagesstätten erhalten die Möglichkeit, sich zu verselb­ständigen, ihre Träger zu kündigen oder zu wechseln.

14. Kindertagesstätten, die im Rahmen der Bestimmungen des KJHG arbei­ten, erhal­ten garantierte Grundetats. Diese Beträge müssen ausreichend bemessen sein, um den Erziehungs- und Bildungsauftrag in mindestens be­friedigender Weise erfüllen zu können (im Hinblick auf Qualitätsstandards, Personalschlüssel, Vor- und Nachberei­tungszeiten, Aufnahme von Kindern unabhängig von ihrer sozialen Herkunft u.a.).

Kindertagesstätten, die in schwierigen Einzugsgebieten oder unter schwierigen Bedingun­gen arbeiten, erhalten einen erhöhten Grundbetrag. Es werden Anreize für Qualitätsver­besserungen geschaffen. Kindergärten, die sich einer externen Evaluation und einem ranking unterziehen, erhalten bei gutem Ergebnis in rele­vantem Umfang Leistungs­zuschläge, die sich sowohl im Bereich der Sachmittel als auch der Personalmittel auswirken.
Kindertagesstätten erhalten Haushaltsautonomie. Sie unterliegen einem externen Control­ling.

15. Kindertagesstätten werden ermutigt, sich durch Community Business, d.h. durch Differenzierung und Erweiterung ihres Dienstleistungsangebotes, Mittel selbständig zu erwirtschaften.
Sie unterliegen dabei Rahmenbedingungen, die sich aus ihrer jugend- und bil­dungspoli­tischen, gemeinnützigen Zielsetzung ableiten. Kindertagesstätten haben das Recht auf Gründung von Subunternehmen.

Eltern

16. Die bisherige Definitionsmacht der Jugendhilfe-Verwaltung, welches institu­tion­elle Angebot für Eltern und Kinder angemessen sei, wird weitge­hend an die Eltern und Erzieherinnen abgetreten, wobei die Grenzen dort gesetzt sind, wo gegen den Grundsatz der Kindgemäßheit verstoßen oder Qualitätsstandards deutlich unter­schritten werden.

Nicht nur die von Trägern oder Erzieherinnen, sondern auch die von Eltern ge­gründeten Einrichtungen unterliegen hinsichtlich fachlicher Standards der Evalua­tion.

Träger

17. Träger sind Dienstleistungsunternehmen, die Praxiseinrichtungen bei der Entwicklung fachlicher Qualität, eines besonderen Profils, der lokalen, regi­onalen und überregionalen Vernetzung, des Management, der Unterneh­mensentwicklung und des Marketing unterstützen.

Ihre Angebote werden durch die Nutzer geprüft, verhandelt, akzeptiert oder zu­rückgewie­sen.

18. Träger unterliegen hinsichtlich ihrer fachlichen Qualität auf allen Ebenen, insbe­sondere der lokalen, einer externen, dialogischen Evaluation.

Die Vergabe von öffentlichen Mitteln wird zum Teil an die Ergebnisse einer sol­chen Evaluation geknüpft; die Träger werden hinsichtlich allgemeiner - nicht: trä­gerspezifischer - Qualitätsstandards in ihren Einrichtungen einem Ranking unter­zogen.

19. Neuen Trägern ist der Zugang zu erleichtern.

Sie unterliegen der externen Evaluation und einer daran geknüpften Mittelvergabe.

Fachaufsicht

20. Die trägerinterne wie trägerübergreifende Fachaufsicht wird in ein Sys­tem ex­terner, an Qualitätsstandards orientierter Evaluation überführt.

Berufsbild und -perspektiven

21. Es werden Kinder- von Jugend- und Erwachsenenpädagog/inn/en unter­schieden. Die Tätigkeiten von Kinderpädagog/inn/en bezieht sich auf die Al­tersgruppe der Null- bis Vierzehnjährigen.

Der Tätigkeitsbereich wird differenziert und so ausgelegt, dass eine ganzheitliche Förderung und Betreuung von Kindern inner- und außerhalb von Institutionen möglich wird. Auch wenn der Akzent auf Pädagogik liegt, bezieht die berufliche Tätigkeit angren­zende Gebiete - wie die der psychosozialen Versorgung, der Ge­sundheitsvorsorge, der Fa­milienpolitik, der Ökonomie, der Lernbereichsdidaktik - mit ein. Der Beruf wird in seiner tariflichen Struktur neu bewertet. Kinderpäda­gog/inn/en im Angestelltenverhältnis werden analog zu Grundschullehrer/innen vergütet. Die Tendenz zur selbständigen Niederlassung wird gefördert. Wechsel und Aufstieg innerhalb des beruflichen Tätigkeitsrahmens werden gefördert und honoriert. Solche Veränderungen können in Anlehnung an das von der OECD sei­nerzeit empfohlene Modell der recurrent education angelegt werden (an materi­elle und sonstige Anreize geknüpfter Wechsel von Ausbildung / Berufspraxis / Weiter­bildung / Berufspraxis / Weiterbildung / Berufspraxis - wobei relevant ist, dass die sich qualifizierende Person durch solche Anreize dem beruflichen Praxisumfeld erhalten bleibt).

Kindheit als Gegenstandsbereich

22. Kindheit (mit der Altersspanne null- bis vierzehnjähriger Kinder) wird als fach-politisch eigener Gegenstandsbereich gefasst und einem, nicht zwei Ressorts zugeschlagen, das die jugend- und bildungspolitische Zuständig­keit in sich vereint.

23. Die Ausbildung von Kinderpädagog/inn/en und Grundschulpäda­gog/inn/en er­folgt in Teilen nach einem sozialpädagogisch orientierten Cur­riculum, in dem die gemeinsamen Kennzeichen vor-, außer-, und schulischer Bildung und Erziehung herausgearbeitet werden.

Dazu gehören beispielsweise: Situations- und Lebensweltbezug bei Bildungspro­zessen, entdeckendes und projektorientiertes Lernen, Verbindung von sozialem und sachbezoge­nem Lernen / Lernbereichs- statt Fächerorientierung, Elternmit­wirkung, offene Planung / offener Unterricht, Gemeinwesenorientierung / Commu­nity Education u.a.m.

24. Die institutionelle Verortung jeweiliger Teileinrichtungen (Krippe, Kindergar­ten, Hort, Grundschule) wird dadurch zweitrangig, dass die ge­nannten Einrichtungen (neben ihren je spezifischen) auch an gemeinsamen Qualitätsmerkmalen gemessen und evaluiert werden.

Integrative Formen - die ganztägige, kindgemäß rhythmisierte Grundschule in der Form einer Nachbarschaftsschule zum Beispiel - sind additiven Formen - Grund­schule neben Hort - vorzuziehen.

Soweit diese Vorschläge. Darüber kann man streiten. Streit ist besser als Resig­nation.

Auf zwei Verbündete sei hier verwiesen: auf die neue "Rahmenvereinbarung zur Ausbil­dung und Prüfung von Erziehern/Erzieherinnen", beschlossen von der Kul­tusministerkon­ferenz am 28. Januar 2000, und auf die Studie von Be­her/Hoffmann/Rauschenbach (1999).

Der KMK-Beschluss stellt einen Bezugsrahmen her, der sinnvolle Eckwerte setzt, der wichtige Ziele und Lernbereiche benennt. Dieser Beschluss folgt unseren Überlegungen ein gutes Stück weit, schafft Klarheit über den Pflichtteil der Ausbil­dung und erleichtert eine profilbildende Kür.

Die Studie von Beher/Hoffmann/Rauschenbach wiederum weist nach, dass die dramatischen Veränderungen der Berufschancen und -anforderungen von Erzie­herinnen eine Neuorientierung der Ausbildung nahezu erzwingen. Bertolt Brecht hat gesagt, die Zukunft beginne nicht überall zur gleichen Zeit. So auch hier. Die Idylle lebt (noch) weiter, nebenan breitet sich schon Erschrecken aus. Deutlich wird, dass der Wettbewerb in den Teilsystemen rings um die Tagesbetreuung längst eingesetzt hat. Nur Lemminge trotten Abgründen ahnungslos entgegen. Besser sind die Düsentriebs dran. Sie knipsen ihre Phantasie an und erfinden Brücken, die zum anderen Ufer führen. Die Mühen der Ebene liegen allemal vor uns.

5. Ausblick

Der Situationsansatz ist aus einer theoriegeleiteten wie pra­xisverbundenen Dis­kussion entstanden. Er hat viel Zustimmung gefunden, vor allem aber ein hohes Maß an pädagogischer Phantasie und Praxis freigesetzt. Es be­steht kein Anlaß, die Lichter, die von vielen tausend Erzieherinnen entzündet wurden, ge­ring zu schätzen und unter den Scheffel zu stellen.

Gleichwohl bedarf er der Weiterentwicklung und Fundierung. Wissenschaftspoli­tisch ist damit gemeint, das Verhältnis von research & development, von Entwick­lung, Implemen­tation und grundlagenorientierten Studien besser zu balancieren. Zu den von Kritikern nicht berücksichtigten Rahmenbedingungen, unter denen der Situationsansatz entwickelt wurde, gehört, daß die Modellversuchspolitik der ver­gangenen drei Jahrzehnte komplementäre, grundlagenorientierte Studien nicht auf der Prioritätenliste hatte. Der Si­tuationsansatz ist in überwiegendem Maße durch Wissenchaftler/innen und Modera­tor/inn/en auf zeitlich eng befristeten, drittmittel­finanzierten Stellen entwickelt und evalu­iert worden. Projektmitarbeiter/innen wa­ren schon aus Gründen der Existenzsicherung nicht in der Lage, sich anschlie­ßend in die Rolle von Privatgelehrten zurückzuziehen und offenen Fragen vertie­fend nachzugehen.

Bemerkenswert ist nun, daß einige der Kritiker auch auf akademisch sicheren Posten der Kindergartenreform nicht zugearbeitet, reklamierte Aufgaben nicht selbst gelöst, eigene bessere Konzepte nicht vorgelegt und implementiert haben. Immerhin hatten sie dreißig Jahre Zeit dazu. Wo ist denn – jenseits der interes­santen Nischen Waldorf, Montessori oder Reggio - die von der deutschen Kritik vorgelegte überzeugende Alternative, die alle die offenen Fragen beantwortet? Wo ist die Anthropologie des Kindes und wo das umfassende Programm, das ent­wicklungs- und kognitionspsychologische sowie lerntheoretische Er­kenntnisse moderner Art der Praxis erschließt? Blickt man in die heterogene Landschaft von Praxiseinrichtungen, wird deutlich, daß dem Situationsansatz – in gradueller Ab­stu­fung – nach wie vor eine Frühling-Sommer-Herbst-und-Winter-Pädagogik ge­genüber­steht. Es genügt nicht, Qualität zu messen. Man muß sie vorher ent­wickeln.

Anders als andere Ansätze – man nehme als Beispiel das Gefälle zwischen der vorzügli­chen Reggio-Pädagogik und der Praxis in übrigen italienischen Kinder­gärten - hat der Si­tuationsansatz national in die Breite gewirkt. Er hat Wahlver­wandte gefunden und trifft sich mit modernen Formen der Erwachsenenbildung, der betrieblichen Ausbildung, der Micro Entrepreneurship Education, der Commu­nity Education, der Orientierung des Unter­richts an Klafki’schen epochalen Schlüsselthemen, mit Formen des fächerübergreifenden, handlungs- und lebens­weltorientierten Lernens. Er will seinen Bildungsanspruch in einem sozialpädago­gischen Umfeld hochhalten, sich gegen Verschulungstendenzen wehren, Ten­denzen der Rückkehr zu Funktionstrainingsprogrammen widerstehen, seine Of­fenheit (die nicht Beliebigkeit ist) gegen zu zwanghafte Strukturierungsversuche verteidigen, zwischen wissenschaftlichem Wissen und Erfahrungswissen vermit­teln, den Diskurs nicht durch das Kommuniqué ersetzen, das Kind im Mittelpunkt belassen. Zugleich braucht er eine inten­sive Anbindung an die Humanwissen­schaft, bedarf der weiteren didaktischen Differenzie­rung und prägnanteren Fas­sung zentraler Begriffe: Dies ist ein attraktives Programm für die nähere Zukunft. Wenn sich aus den Arbeiten des Entwicklungspsychologen Daniel N. Stern schlußfolgern läßt, daß die reale, anregungsreiche Situation ein wichtiges Ferment der Selbst-Entwicklung des Kindes ist, daß die Provokation des lernintensiven Mi­lieus bildet, wenn Albert Bandura davon spricht, daß positive Auffassungen der persönlichen Handlungskompetenz zum ‚wirksamen‘ Verhalten in Situationen bei­tragen können, dann treffen sich solche Aussagen nicht nur mit dem Situationsan­satz, sondern auch mit einer Beobachtung von Ivan Illich: Das meiste Lernen, meinte er, geschehe nicht durch Unter­richt, sondern durch die ungehinderte Teil­habe an relevanter Umgebung.

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"Nicht das Rad neu erfinden." Quelle: Diskurs, H.2, 2002, S. 11-18