Staatssekretär Dr. Hans-Gerhard Husung

Die Verleihung des Bundesverdienstordens

Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Jürgen Zimmer,
es mir eine Ehre und Freude, Ihr langjähriges Engagement für und Ihre Verdienste um die Berliner Wissenschaft sowie Ihr nationales wie internationales bildungspolitisches Wirken würdigen zu dürfen, wofür Sie der Bundespräsident mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland auszeichnet. Lassen Sie uns dazu gemeinsam zunächst auf Ihre bisherige Vita zurückschauen.

Sie wurden 1938 nahe dem westfälischen Bielefeld in Verhältnisse hineingeboren, in denen viel Bewegung war, das hieß: von einem Ort zum anderen ziehen und immer wieder neue Heimaten kennen lernen. Sie sind an vielen Orten dieser Welt gewesen, vielleicht haben Sie diesen Drang zu reisen und immer wieder zu neuen Ufern aufzubrechen von Ihrer Mutter, die 28-mal umgezogen ist, geerbt.

Von Ihrem Stiefvater wurden Sie noch während des Krieges adoptiert und heißen nach ihm Zimmer. 1944 gelangten Sie mit Ihrer Mutter über Norddeutschland, Innsbruck, Kassel und Sonthofen nach Wasserburg am Bodensee. Dort erlebten Sie eine nicht gerade glückliche Kindheit, die Schule haben Sie dort sogar als terroristisch empfunden: durch die Art des Unterrichts der Lehrer und durch die älteren Mitschüler. Erst später hatten Sie Wasserburg als Ihre ambivalente Heimat akzeptiert, als eine von mehreren, es ist für Sie die wichtigste.

Die Schulzeit in Schloss Hohenfels war - wie Sie selbst beschrieben haben - der Anfang einer außerordentlich harten Zeit. Von dort kamen Sie in die Melanchthonschule ins hessische Steintal, dann nach Schloss Bieberstein in die Hermann-Lietz-Schule und wieder zurück an den Bodensee, nach Lindau ans Gymnasium. Danach ging es nach Salem. Trotz widriger Umstände machten Sie dort das Abitur und haben sogar zwei Preise für den besten Abituraufsatz in Baden-Württemberg bekommen.

Anschließend studierten Sie in Hamburg, Freiburg und München Psychologie, Erziehungswissenschaft und Jura. Ins Psychologie-Studium sind Sie nach eigenem Bekunden "irgendwie reingerutscht", gleichwohl schlossen Sie Ihr Studium als Diplom-Psychologe ab. Schon während des Studiums arbeiteten Sie bei der Wochenzeitschrift "Die Zeit", aber nie hauptberuflich. Sie hatten im "Modernen Leben" volontiert, in einem Teil der Zeitschrift, der heute "Leben" heißt. Später, in den 1980er Jahren, leiteten Sie dort zwei Jahre lang das Bildungsressort.

Während Sie als Forschungsassistent im von Hellmut Becker gegründeten Max Planck-Institut für Bildungsforschung bei Shaul B. Robinsohn arbeiteten, promovierten Sie an der Freien Universität Berlin mit "summa cum laude" in Erziehungswissenschaft. Ein Schwerpunkt Ihrer Arbeit im Max-Planck-Institut war die Entwicklung des Strukturkonzepts der Curriculumversion. Diese Diskussion trat damals eine Lawine in der Bundesrepublik los, weil sich insbesondere die Fachdidaktiker attackiert fühlten. Sie hatten über Ihre Schulerfahrungen ein starkes Entschulungsinteresse. Das Lernen im Leben empfanden Sie als sehr viel intensiver und spannungsreicher als das Lernen im Klassenzimmer.

In diese Zeit fiel auch die Gründung von "betrifft: erziehung", an der Sie beteiligt waren. Damit hatten Sie eine Zeitschrift platziert, die innerhalb kurzer Zeit 40.000 Auflage hatte - ein großer Erfolg für die damaligen Verhältnisse.

Ab 1971 waren Sie Leiter des Arbeitsbereichs Vorschulerziehung am Deutschen Jugendinstitut in München. Diese Münchener Jahre waren die Geburtsstunde des Situationsansatzes, auf den ich gleich noch etwas näher eingehen möchte.

Nach Lehraufträgen und Lehrstuhlvertretungen u. a. in Tübingen und São Paulo - dort in Zusammenarbeit mit Paulo Freire - wurden Sie 1978 Wissenschaftlicher Rat und Professor an der Universität Münster und 1979 auf eine ordentliche Professur für Erziehungswissenschaft an der Pädagogischen Hochschule Berlin berufen. Von 1980 bis zu Ihrer Emeritierung 2004 waren Sie Professor am Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie an der FU Berlin.

Sehr geehrter Herr Professor Zimmer, Ihr Name ist untrennbar mit dem Situationsansatz verbunden, dem sozialpädagogischem Konzept zur Begleitung von Bildungs- und Lebensbewältigungsprozessen von Kindern im Zielhorizont von Autonomie, Solidarität und Kompetenz. Sie selbst beschreiben ihn als eine Methode, die versucht, Lernen in komplexer Wirklichkeit zu ermöglichen, d.h. in Schlüsselsituationen, die sowohl von biografischer Bedeutung sind für die Lernenden als auch von gesellschaftlicher Bedeutung und in denen über die Formulierung einer Situationstheorie alle kleinen oder großen Momente der Blochschen konkreten Utopie identifiziert werden.

Da sind die Ziele, die man angesichts der Analyse von solchen Situationen formuliert, zwar einerseits Ziele, die der Qualifizierung der intuitiv Handelnden dienen, andererseits aber auch solche, die auf Situationsgestaltung abstellen. Das heißt, das ist nie immer nur Pädagogik, sondern auch reale Gestaltung von Wirklichkeit im Unterschied zur Schule, in der diese reale Gestaltung von Wirklichkeit ausgeklammert bleibt. Mit anderen Worten: Sinnloses Lernen von Kindern ist unerwünscht.

Bei der Gestaltung von Bildungsinhalten oder von Spielen und Projekten, die der Situationsaufklärung und Bewältigung dienen, beziehen Sie nicht nur Kinder ein, sondern auch Eltern und andere Erwachsene. Das heißt, es ist ein Prozess des gemeinsamen Lernens mit offenem Ausgang, bei dem im Idealfall generationsübergreifend zusammengearbeitet wird. Das hat auch Konsequenzen für die Institution, insofern ist dieser Ansatz auf Öffnung und Entritualisierung gerichtet.

Sehr geehrter Herr Professor Zimmer, Ihnen wird große Dynamik, Kreativität und ein schier unerschöpflicher Ideenreichtum attestiert. Seit dem Ende der 1970er Jahre haben Sie Projektentwicklungen inspiriert, die Lernorte außerhalb formalisierter Bildungsinstitutionen entstehen lassen ("Der Berliner Pädagoge Jürgen Zimmer erfand das 'Lernen ohne Klassenzimmer'" - so Roland Mischke in der Frankfurter Rundschau vom 6.3.2007). Die Titel Ihrer eindrucksvollen Veröffentlichungsliste sind charakterisiert durch Wissenschaftlichkeit, die sich stets der Praxis verpflichtet fühlt, und waren von Anbeginn an grenzüberschreitend angelegt: nicht nur interdisziplinär, sondern auch international wie interkulturell und folglich in vielen Sprachen veröffentlicht.

Es ging Ihnen stets darum, den Begriff Lebenshilfe wörtlich zu nehmen, indem Sie den Kindern und Jugendlichen der von Ihnen inspirierten Bildungseinrichtungen in aller Welt Hilfen zum Leben und damit Mut und Kompetenz zum Überleben vermittelt haben. Nach Ihrem Referenzwerk "Vorschulkinder" (1969) beschäftigen sich Ihre wichtigsten Veröffentlichungen deshalb mit der "vermauerten Kindheit" im Alten Europa, im Deutschland der Bundesrepublik und der DDR. Sie setzen dagegen die Öffnung der Schule für das Leben, das Lernen für die Praxis, die Entwicklung von Entrepreneurship bei Kindern, Jugendlichen wie Erwachsenen, eine Genese des "Reichtums von unten". Das ist auch der Titel Ihrer auflagenstarken Veröffentlichung, die Sie gemeinsam mit Günter Faltin erstellt haben.

An der FU Berlin waren Sie Mitbegründer des Instituts für Interkulturelle Erziehung und Bildung sowie 1997 der Gründer der Internationalen Akademie INA für innovative Pädagogik, Psychologie und Ökonomie. INA ist der Idee eines sozial-unternehmerischen Handelns verpflichtet: Die Institutsdirektoren und ihre Teams handeln als Wissenschaftler, Lehrende und Unternehmer. Die Ergebnisse ihrer Arbeit stehen dann auf dem Prüfstand der Auftraggeber und Kooperationspartner. Wichtig sind Ihnen die Querdenker, auch und gerade in der Akademie, die über Fachgrenzen hinweg zusammenarbeiten und Gemeinsames leisten. Inzwischen versammelt sich eine Vielfalt von 17 Instituten mit rund 150 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unter dem Dach der INA.

Think globally, act locally. Die Akademie setzt auf die kulturelle Vielfalt dieser Welt und arbeitet interkulturell. Mit der FU verbindet sie ein Kooperationsvertrag, von dem beide Seiten profitieren. Auch mit meinem Haus arbeitet die INA vortrefflich zusammen. Bereits 2003 hat sich die INA an dem neuen Bildungsprogramm für die Kindertagesstätten beteiligt, genannt sei hier ebenfalls der Prozess der Qualitätsentwicklung in Berliner Kitas, wofür die INA extra ein eigenes Institut (BeKi) gründete. Zusätzlich entstanden in Berlin INA-Kindergärten, einige in sozialen Brennpunkten. Sie vermitteln ein Bildungsangebot für die Jüngsten nach pädagogisch wertvollen Erkenntnissen, die Einbeziehung einer interkulturellen Erziehung und die Integration von Migrantenkindern.

Darüber hinaus verfolgt INA auch einen utopischen Ansatz: Sie ist der Versuch, eine dynamische Institution an oder nahe der Universität zu gründen. Die Hoffnung dabei war, dass diese Universität von Grund auf lebendiger gestaltet wird, neue Zellen entwickelt und eine Professorengeneration bildet, welche auch außerhalb der Universität Dinge bewirkt, die Mittel durch sozialunternehmerische Initiativen erwirtschaftet und Studenten ein anderes Modell der Lebendigkeit und des Ernstfalls bietet.

Nun möchte ich einen Lebensabschnitt von Ihnen ansprechen, der Ihnen sicherlich ganz besonders am Herzen liegt: Seit dem Ende der 1990er Jahre beraten und gründen Sie Schulprojekte in Südostasien: Für die oft analphabetischen Kinder der Hill Tribes gründeten Sie in der Provinz Chiang Mai, die erste "School for Life". "The best for the poorest": unter diesem Motto dienen die Schools for Life in erster Linie der Armutsbekämpfung.

Nach dem Tsunami von 2004 gelang es Ihnen 2005, mit Hilfe des Bremer Reeders Niels Stolberg, die "Beluga School for Life" als ein Kinderdorf bei Khao Lak für insgesamt 180 Tsunami-Waisen und für Kinder der Armen zu gründen. Es ist das größte private Hilfsprojekt dieser Art in Thailand, dessen Betriebskosten der Hauptsponsor für die ersten zehn Jahre zugesagt hat. Danach soll es sich möglichst allein tragen, weil zum Beispiel zu der Anlage auch Gästebungalows gehören.

Die Schule des Lebens wird Kindern helfen, zu Unternehmern ihres eigenen Lebens zu werden. Unter der Schirmherrschaft von Thailands König Bhumipol waren Sie im "Advisory Board of the Foundation for Thailand Rural Reconstruction Movement" tätig. Sie teilen die Ziele des Königs: Armutsbekämpfung durch Bildung und Erziehung, Vertrauen in die eigene Kraft und Respekt vor der eigenen Kultur.

Als Folge Ihres Südost-Asien-Engagements sind Sie als Emeritus gegenwärtig nur noch wenige Wochen im Jahr in Berlin, die Sie aber nach wie vor nutzen, um Promotionsverfahren erfolgreich abschließen zu helfen sowie Magister- und Diplomgrade an FU-Studenten, die häufig in einem Ihrer außereuropäischen Projekte ihre Forschungen angestellt haben, zu verteilen.

Nach wie vor vertreten Sie eine Pädagogik, in deren Mittelpunkt das Leben und der Umgang mit der Wirklichkeit stehen. Es hat in Ihrem Leben als Hochschullehrer zwei Möglichkeiten gegeben, Wirklichkeit auf eine andere Weise in Erfahrung zu bringen als in Seminarräumen: einerseits in Ihrer journalistischen Rolle und andererseits mit Aktionsforschungsprojekten, in denen Sie mit vielen Menschen zusammen kamen, die jenseits des akademischen Milieus standen.

Vor allem durch Ihre Arbeit in der südlichen Hemisphäre bekamen Sie unmittelbaren Kontakt mit der Bevölkerung. Studierende haben Sie immer wieder mitgenommen in die Länder des Südens und sie ziemlich unmittelbar den extremen Situationen ausgesetzt. Sie beschreiben es in einem Interview mit David Becker sehr deutlich: Sie kommen in Manila an am Flughafen, sind einen Tag später in den Slums und leben mit diesen Menschen. Da beginnt dann das intensive Lernen. In den Universitäten hat das in Ihren Veranstaltungen zu einem Zulauf von Studierenden geführt, die merkten, dass eine Tür zu einer interessanten Wirklichkeit geöffnet wird und dass der ständig reklamierte Theorie-Praxis-Bezug hier in einer eher ungewöhnlichen Weise beantwortet wird.

Sehr geehrter Herr Professor Zimmer, seit über 30 Jahren haben Sie die Kindergartenreform in der Bundesrepublik beeinflusst und geprägt. Der Situationsansatz ist entscheidend mit Ihrem Namen verbunden. In mehr als 30 Ländern und bei vielen internationalen Organisationen haben Sie sich für eine lebendige, nichtdomestizierende, sondern auf das Leben vorbereitende Pädagogik eingesetzt. Ihre Beratertätigkeit erstreckt sich von der deutschen UNESCO-Kommission sowie Arbeitsgruppen und Beiräten des Deutschen Bildungsrates, der BLK für Bildungsplanung, der OECD bis zur GTZ, Freudenberg-Stiftung, European Cultural Foundation, Council of Europe, Ministerio de Educaçión Nicaragua, National Education Commission Thailand und vielen mehr.

Sie gelten im besten Sinn als Anstifter: Menschen fühlen sich von Ihnen inspiriert, Neues zu wagen, sich auf Ungewöhnliches einzulassen oder einfach nur weiter und manchmal unkonventionell zu denken. "WIR - das Magazin für die Ehemaligen der FU" nennt Sie einen "Querdenker", der für seine unkonventionellen Lehrmethoden unter Studenten berühmt war, weil Sie, wie ich bereits oben erwähnte, zum Beispiel ganze Seminare mit in die Slums von Manila nahmen, damit die Studierenden zusammen mit den einheimischen Kindern lernen konnten.

Sehr geehrter Herr Professor Zimmer, Sie haben deutliche Spuren in der nationalen wie internationalen pädagogischen Landschaft hinterlassen. Um Ihnen dafür und für Ihre herausragende Verdienste um die Berliner Wissenschaft zu danken, verleiht Ihnen die Bundesrepublik Deutschland den Verdienstorden. Ich freue mich, Ihnen jetzt diese Auszeichnung überreichen zu dürfen.

Berlin, den 25. Mai 2010